Die Ernährungslehre ist ein sehr wichtiger Teilbereich der traditionellen chinesischen Medizin TCM und gilt neben der Akupunktur, Arzneitherapie, manueller Therapie (wie Tuina) und Qigong (Bewegungstherapie) als fünfte „Säule“ der TCM. In der chinesischen Medizin hat eine angemessene Ernährung sehr früh eine grosse Bedeutung erlangt. Ein guter Therapeut zeichnete sich dadurch aus, dass er einen Kranken zuerst mit diätetischen Mitteln behandelte und nur im Notfall auf Arzneien zurückgriff. Das umfangreiche diätetische Wissen der Chinesen verbreitet sich nur sehr langsam in unserem Kulturkreis. Dies mag wohl auch an der unbefriedigenden Integration dieser Therapieform in das Gesamtgefüge der traditionellen chinesischen Medizin liegen. Auch sind unsere Ernährungsgewohnheiten davon abweichend und das Angebot in den chinesischen Restaurants ist doch sehr unseren Geschmäckern angeglichen, und ist somit nicht unbedingt relevant für die eigentliche chinesische Ernährungslehre. Der für uns besondere Ansatz der chinesischen Diätetik ist, dass bei jedem einzelnen Lebensmittel seine Besonderheiten auf den menschlichen Organismus beschrieben werden. Anders als in der westlichen Ernährungslehre, die basierend auf Analyse der Zusammensetzung der in einzelnen Nahrungsmitteln enthaltenen Nährstoffen, und sich daraus ergebende mengenmässige Angaben beschränkt, liegt in der chinesischen Ernährungslehre die Wirkungsbeschreibung im Vordergrund.
Der komplementäre und funktionelle Ansatz der chinesischen Diätetik ist massgeblich mit der energetischen Vorstellung einer „Lebenskraft“ Qi verbunden. Das Spannungsfeld äusserer energetischer Einflüsse, dem jeder einzelne Mensch unterliegt, und das innere energetische Potential, das durch die sogenannten Funktionskreise bereitgestellt und mittels der Leitbahnen im Körper verteilt wird, nennen die Chinesen Qi. Ist das ausgewogene Verhältnis des Qi im Organismus gestört, spricht man von Krankheit. Der richtige Einsatz von Nahrungsmitteln kann diese Ausgewogenheit wieder herstellen; Nahrungsmittel sind also milde Therapeutika. Mit der Qi-Kraft eines Nahrungsmittels, kann somit auf das Qi im menschlichen Organismus korrigierend eingewirkt werden.
Die chinesischen Ernährungslehre definiert die Wirkung eines Lebensmittels folgendermassen:
Das Temperaturverhalten (von kalt bis heiss) gibt Aufschluss über die energetische Dynamik eines Lebensmittels. Es zeigt an, ob ein Lebensmittel das Qi stark oder nur leicht bewegt.
Kalte oder kühle Nahrungsmittel stellen Säfte bereit, verlangsamen die energetischen Prozesse, verfestigen, sammeln und wirken eher absenkend. Beispielsweise gelten Banane oder Wassermelone als kalt und Spinat, Birne und Gurke als kühl.
Heisse oder warme Nahrungsmittel sind dagegen reich an aktiver Energie, diese dynamisieren, lösen, zerstreuen, beschleunigen und heben empor. Chili oder Pfeffer sind beispielsweise heiss, Zwiebel, Ingwer, Lauch und Pfirsiche warm. Neutrale Nahrungsmittel vereinigen Kälte und Wärme in sich: Sie spenden Säfte, erhalten und stellen aktive Energie bereit. Hierunter fallen z.B. Hafer, Mais, viele Bohnenarten, Karotten, Kartoffeln.
Da jedes Nahrungsmittel ein eindeutiges Temperaturverhalten hat, ist es gemäss dem klinischen Leitsatz anzuwenden: „Kühles wärme man, Warmes kühle man“. D.h. dass man bei einer „Kälte“-Symptomatik warme oder heisse Nahrungsmittel zu sich nehmen sollte, bei einer „Hitze“-Symptomatik dagegen kühle oder kalte.
Ein weiteres Einordnungskriterium ist die Geschmacksrichtung, von salzig bis scharf. Dies bezieht sich zwar im Wesentlichen auf unser Geschmacksempfinden, gibt aber in der chinesischen Diätetik vor allem Aufschlüsse darüber, in welcher Tiefe (Schicht) ein Lebensmittel wirksam ist. So wird z.B. der Gurke eine süsse Geschmacksrichtung zugeschrieben, obwohl diese nicht süss schmeckt; vielmehr kommt in dieser Zuordnung ihre Säfte spendende und stützende Wirkung zum Ausdruck.
Die Geschmacksrichtungen sind:
• Scharf: entfaltet, löst, öffnet, mobilisiert die aktive Energie und wirkt an der Oberfläche, z.B. Chili, Ingwer, Fenchel, Rettich, Pfeffer.
• Süss: spendet Säfte, stützt, wirkt hygroskopisch, spendet aktive Energie, reguliert, harmonisiert und puffert, z.B. fast alle Getreidearten, Bohnen, Früchte, zahlreiche Fleischarten.
• Neutral: reguliert den Flüssigkeitshaushalt und regt die Ausscheidungen an, z.B. Kürbisse, Pilze.
• Sauer: wirkt adstringierend, erhält Säfte, rauht auf und stopft, z.B. Zitrone, Pampelmuse, Litschi, Weintraube, Fasan, Essig.
• Bitter: trocknet, rauht auf, schlägt nieder, bindet die Säfte, klärt und drainiert, z.B. Löwenzahn, Sellerie, Salat, Schweineleber.
• Salzig: erzeugt Säfte, wirkt hygroskopisch, hält und sammelt Säfte, befeuchtet, senkt ab, laxiert, erweicht und löst, z.B. Algen, Ente, Taube, Schwein, Tintenfisch, Krebs, Sojabohne.
Neben Temperaturverhalten und Geschmacksrichtung werden für jedes Nahrungsmittel zusätzlich noch zwei weitere Zuordnungskriterien angegeben: Die energetische Wirktendenz gibt an, ob ein Lebensmittel emporhebend oder absenkend, an der Oberfläche oder in der Tiefe wirksam ist. So wirken zum Beispiel Frühlingszwiebeln und Knoblauch emporhebend, Spinat und Sojabohne absenkend; Zimt und Chili sind an der Oberfläche wirksam, Tomate und Aubergine in der Tiefe. Der Funktionskreisbezug, auch Leitbahnbezug, gibt Aufschluss darüber, in welchem Funktionskreis bzw. in welcher Leitbahn das Lebensmittel seine Wirkung entfaltet.
Nach obigem Schema werden in chinesischen Quellen fast alle gebräuchlichen Lebensmittel beschrieben. Die Aussagen über die Wirkrichtung eines Nahrungsmittels sind wichtige Bausteine im Gesamtgefüge der chinesischen Medizin und ermöglichen ein genaues Abstimmen auf ihre anderen Therapieverfahren, wie z.B. Arzneitherapie, Akupunktur oder Bewegungstherapien. Für uns ist diese qualitative Betrachtungsweise der Nahrungsmittel etwas völlig Anderes, da wir diese bisher vor allem unter quantitativen Gesichtspunkten zu betrachten gewohnt waren (Angabe der Kalorien und des Gehalts an Eiweiss, Fett, Kohlehydraten, Spurenelementen etc.). In der traditionellen chinesischen Medizin ist das Wissen um die energetischen Wirkmöglichkeiten eines Nahrungsmittels wesentliche Voraussetzung für eine gezielte therapeutische Anwendung. So können auf dieser Basis individuelle Ernährungspläne sowohl zur Therapie als auch zur Prophylaxe erstellt werden, mit deren Hilfe nicht nur eine gesamte chinesische Behandlung besser greifen kann, sondern auch unsere Ernährungsgewohnheiten können bewusst erweitert und damit bereichert werden.
VISARTiS® 2013